Der Ausbau der Kinderkrippen ist beschlossene Sache – aber werden dabei die Bedürfnisse von Kleinkindern berücksichtigt? Ein Gespräch mit dem Pädagogen, Erziehungsberater und Bestsellerautor Wolfgang Bergmann über die Situation von kleinen Kindern, Eltern und die aktuelle Familienpolitik. Von Ellen Nieswiodek-Martin

pro: Was brauchen Kleinkinder, um sich gesund zu entwickeln?

Wolfgang Bergmann: Kinder in den ersten Lebensmonaten brauchen die Mutter – ob wir das politisch gut finden oder nicht. Mütter sind in den ersten 12 bis 14 Lebensmonaten unaustauschbar. Das seelische Erleben des Kindes ist geprägt durch die Erfahrungen während der Schwangerschaft. Bei den ersten Wahrnehmungen, den ersten Kontakten mit der Welt suchen die Kinder die Augen der Mutter. Durch den Austausch finden sie eine innere Gewissheit, die ihnen nicht nur die materiellen Dinge, sondern auch die Erfahrung des eigenen Selbst deutlich macht. Diese Kommunikation ist elementar für die seelische und körperliche Entwicklung des Kindes. Später kommt der Vater als wichtige Bezugsperson dazu, er nimmt das Kind an die Hand und führt es symbolisch gesprochen „in die Welt“.

Aber profitieren Kinder nicht auch von den Krippen als Bildungseinrichtungen?

Die Ansicht, die zurzeit verbreitet wird, Kinder hätten in der Krippe ein günstigeres Bildungsschicksal und entwickelten sich dort besser, ist durch keine Untersuchung wirklich gut belegt. Experten der unterschiedlichsten Fachrichtungen haben bei der Expertenrunde im Familienministerium vor einem dogmatisch betriebenen Ausbau der Kleinkindbetreuung gewarnt. Die Verbände der analytischen Therapeuten, die Bindungsforscher, auch die Gehirnforscher sagen das Gleiche: Sie befürchten eine massive Zunahme von Depressionen und Hyperaktivität im Grundschulalter.

Ab welchem Alter verkraftet ein Kind denn die Trennung von der Mutter?

Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Aufbau der Bindung und den ersten seelischen Strukturen bis hin zur Ausbildung eines Ich-Gefühls. Ein kohärentes Ich-Gefühl entsteht etwa mit dem 18. Lebensmonat. Der naheliegende Schluss daraus ist, dass Kinder unter 18 Monaten überhaupt noch nicht gruppenfähig sind. Sie sind angewiesen auf die vertraute erwachsene Bezugsperson.

Die Elternzeit endet aber spätestens mit dem 14. Lebensmonat des Kindes…

Ab dem 12. bis 14. Lebensmonat könnte ein Kind bei geduldiger und einfühlsamer Eingewöhnung maximal drei bis vier Stunden in einer guten Einrichtung durchhalten. Zu diesem Ergebnis kam die weltweit größte Studie zur Kinderbetreuung (NICHD). Voraussetzung dafür ist allerdings, dass ein Kind sicher gebunden ist, sich verlässlich von Mama geliebt fühlt und dass es in eine gute Betreuungseinrichtung kommt. Letztere ist leider eine Nadel im Heuhaufen. In vielen Kitas sind etwa zwei bis drei Erzieherinnen für 15 bis 20 Kinder zuständig. Das ist ein Skandal und wird der seelischen Verfassung eines Kleinkindes nicht gerecht. In einer Gruppe von drei Erzieherinnen hat eine Urlaub oder ist krank, eine wickelt ein Kind, eine spielt mit einem Kind. Was tun die anderen 12 Kinder? Wer nimmt das Kleine wahr, das da sitzt mit verlorenem Blick, weil es grade die Mutter vermisst? Dass ein Kind dies unbeschadet übersteht, ist nicht zu erwarten.

Welche Auswirkungen befürchten Sie durch die schlechte personelle Situation in Kindertagesstätten?

Sorgen machen mir vor allem die unsicher gebundenen Kinder. Wenn ein solches Kind mit 12 Monaten in eine Gruppe von 18 Kindern und drei Erzieherinnen kommt, kann das Kind auch dort kaum eine verlässliche Bindung aufbauen. Kinder bilden bei der Trennung von der Mutter übermäßig viel Stresshormon Cortisol aus. Dies wirkt sich unmittelbar aus auf sein Erfassen von Raum und Zeit, von Distanz und Körpergefühl, später kann das negative Folgen auf das mathematische und sprachliche Verstehen haben.

Es gibt viele Menschen, die selbst eine Krippe besucht haben, beispielsweise in der DDR. Würden Sie diesen Menschen nun einen seelischen Schaden attestieren?

Nein, das will ich nicht sagen. Aber ich will es verdeutlichen an einem anderen Beispiel: In meiner Kindheit war es üblich, dass Kinder, vor allem Jungen, geschlagen wurden. Sicher haben nicht alle seelische Schäden davon getragen. Daraus können wir aber nicht den Umkehrschluss ziehen, dass man Kinder ohne weiteres schlagen dürfte. Das ist ein erbarmungsloses Argument.

Welche Rahmenbedingungen braucht ein Kind, wenn es fremdbetreut wird?

Laut internationalem Standard sind 2-3 Kleinkinder pro Erzieherin optimal, das entspricht auch einer Familiensituation. Die Gruppen für Kleinkinder müssten klein sein, das hätte die Familienpolitik festschreiben müssen. Kinder sollten frühestens mit 14 Monaten in eine Krippe gegeben werden, besser später. Eine Mutter oder einen Vater, die die innere Ruhe haben, ihr Kind morgens mit der Erzieherin vertraut zu machen, ohne direkt mit dem Blick auf die Uhr zur Arbeit zu hetzen. Der Eingewöhnungsprozess kann viele Wochen dauern.

Wie lange kann denn ein Einjähriges die Betreuung gut verkraften?

Für ein Kind in dem Alter sind Mama oder Papa weg, wenn es sie nicht mehr sieht, die Zeit kann es nicht abschätzen. Je länger der Zustand dauert, desto mehr steigert sich der seelische Stress. Nach spätestens 3 bis 4 Stunden sollte ein Elternteil wiederkommen – wie gesagt, wir sprechen jetzt nur von sicher gebundenen Kindern mit einem tiefen „Urvertrauen“.

Für einen normalen Berufsalltag ist das doch eine utopische Forderung, oder etwa nicht?

Es erscheint utopisch, weil die Diskussion seit Jahren in die falsche Richtung läuft: Meines Erachtens wurde die Wirtschaft nicht gefragt, was sie bereit wäre, zu dem Thema beizutragen. Ich habe etliche Vorträge bei Wirtschaftsunternehmen zu dem Thema gehalten und stieß dort auf reges Interesse.

Was wäre denn der Vorteil an betrieblichen Kindertagesstätten?

Wenn es dem Kind nicht gut geht, drückt die Erzieherin einen Knopf, dann kommt Mama und bleibt eine halbe Stunde, bis sich das Kind beruhigt hat. Danach geht sie zurück zu ihrer Arbeit. Ein solches Modell bedeutet einen tiefen Kulturwechsel in dieser fast militärisch organisierten Wirtschaftsordnung, die ohnehin einer modernen Kommunikationskultur nicht mehr entspricht.

Welche Vorteile hätte der Arbeitgeber von diesem System?

Die Begabung des Mütterlichen und Väterlichen würde mit in den kreativen Schaffensprozess eingebracht. Als ich noch Chefredakteur der Deutschen Lehrerzeitung war, fiel mir auf, dass die Produktivität und der Einfallsreichtum anstiegen, als die Kinder in der Redaktion waren. An manchen Arbeitstagen, an denen mir nichts gelang, habe ich mit den Kindern einer Redakteurin „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt. Danach hatte ich wieder neue Ideen.

Welchen Rat würden Sie der neuen Familien-Ministerin Kristina Köhler geben?

Runter von den technokratischen abstrakten Zielen, 30 Prozent sind eine aus der Luft gegriffene Marge. Stattdessen sollte man eine breite politische, wirtschaftliche und kulturelle Diskussion darüber beginnen, was Notwendigkeiten sind. Wir sollten uns fragen, welche Möglichkeiten es gibt, die Wahlfreiheiten junger Familien zu erhöhen. Der Satz „Karriere statt Kind“ ist doch Propaganda, die von der „Süddeutschen“ bis zum „Stern“ verbreitet wurde. Nun glauben alle jungen Mütter, wenn sie sich für ein oder zwei Jahre entscheiden, bei ihrem Kind zu bleiben, verpassen sie im Beruf den Anschluss. Das ist eine Fragestellung für die Wirtschaft und die Gesellschaft.

Wie kann eine Mutter berufstätig sein, ohne sich von dem Kind den ganzen Tag zu trennen?

Mütter haben einen tiefen Konflikt, wenn sie ihr Baby mit 7 oder 8 Monaten bereits in die Krippe geben, es ist nicht so, dass sie vergnügt an ihrer Karriere basteln und das Kind einem frohen Bildungsschicksal entgegensieht. Im Gegenteil: es wird geweint, das erzählen alle Erzieherinnen. Die Kinder schreien, die Mütter haben Tränen in den Augen, müssen das verdrängen, weil der Chef im Büro auf die Uhr schaut. Das ist ein unmenschlicher Zustand, auf den wir die Aufmerksamkeit richten müssen. Warum nicht versuchsweise mit organisatorischen Modellen experimentieren?

Was wünschen Sie sich von der öffentlichen Diskussion?

Dass nicht all die Leute, deren Meinung dem Mainstream entgegensteht, denunziert werden und ihnen nicht automatisch unterstellt wird, sie wollten die Mütter zurück an Heim und Herd unter die männliche Herrschaft schicken. Politik, die immer noch eine gewisse Anbindung an das Christliche hat, hätte hier eine Verantwortung gegenüber den schwächsten Mitgliedern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person:Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann leitet das Institut für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. Außerdem hat er zahlreiche Bücher geschrieben. Er ist Vater von drei Kindern.

Das Interview ist erschienen in Ausgabe 1/2010 des Christlichen Medienmagazins pro. www.pro-medienmagazin.de

VON:EN | 24.02.2010

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